Ein Zuspruch für mehr Achtsamkeit im ersten Lebensjahr und warum es nur halb stimmt, dass alles automatisch passiert.
Bewegungsentwicklung im Fokus: Schau auf das Wie, nicht so sehr auf das Wann
Ja, es ist tatsächlich so. Die Festplatte eines kleinen Säuglings ist nicht leer. Klar, ist sie noch nicht so beschrieben wie unsere, aber es gibt eine Vorinstallierung für die motorische Entwicklung. Verläuft diese Entwicklung ohne Störfaktoren, spricht man vom idealtypischen Ablauf in der Bewegungsentwicklung. Idealtypischer Ablauf? Wer kennt den schon? Und wer strebt heute noch nach "ideal"? Schließlich geht es doch in der Kindererziehung den wenigsten um Optimierung, sondern, darum, dass das eigene Kind sich frei entwickeln kann, glücklich und zufrieden ist. Aber was ist, wenn du plötzlich weißt, dass eine gesunde und idealtypische Bewegungsentwicklung einen großen Einfluss auf das Wohlbefinden deines Kindes, die Zufriedenheit und das Zurechtkommen in der Welt hat? Was ist, wenn du das Wort Optimierung durch Erleichterung oder Unterstützung austauscht? Klingt das dann stimmiger?
Eigentlich lieben wir Menschen ja Neues, Aktuelles und vor allem das Beste, gerade wenn es um elektronische Geräte geht, um ein neues Auto oder die Babyausstattung. In Bezug auf Kindererziehung halten sich aber noch oft altbekannte Art und Weisen und in der Bewegungsentwicklung wird leider noch viel passiv und parallel hochgehoben, schnell umdreht und wieder parallel abgelegt. Es gibt Meinungen, dass es egal ist, ob Kinder krabbeln oder auf dem Po vorrutschen. Ist doch ganz kreativ und amüsant, wenn Kinder andere Wege „gehen“. Manchmal wird „das am Boden sein“ auch einfach ganz ausgelassen, denn „sie steht ja schon so schön“ und obwohl wir längst wissen, dass man Kinder nicht, niemals, und wirklich nicht alleine frei hinsetzen soll, bevor sie den Weg dorthin nicht selbst zigmal geübt und selbst geschafft haben, wird es trotzdem immer wieder „nur kurz“ und „nur selten“ gemacht. „Am Ende sieht man den Kindern ja auch eh nicht an, wann sie sitzen oder laufen gelernt haben.“ Stimmt. Und um das Wann geht es auch gar nicht so sehr, sondern wichtig, ist das das Wie.
Der Einfluss frühkindlicher Reflexe auf unsere Bewegungsentwicklung
Und wie kommen wir nun automatisch in Bewegung? Durch unsere frühkindlichen Reflexe. Mit Hilfe der Bewegungs-, Halte und Stellreflexe, bekommen Kinder für jeden einzelnen Meilenstein der Bewegung den ersten Schubs in die richtige Richtung. Dieser Schubs hat das Ziel Muskulatur aufzubauen und im Gehirn Nervenzellen zu bilden, zu verstärken und zu verbinden. Jeder Reflex hat ein bestimmtes Bewegungsmuster, einen Zeitpunkt der Entstehung und einen Zeitrahmen in dem er gehemmt, also integriert wird. Meint, dass aus einer zunächst unbewussten Bewegung, ausgelöst, durch den Schubs, eine bewusst gesteuerte wird.
Um es dir besser vorstellen zu können, sagen wir, dass die Reflexe ein Navigationsgerät mit eingebautem Lenkimpuls sind. Die Nervenzellen und Verbindungen stellen wir uns wie einen nicht oft befahrenen Feldweg vor. Fährt man einen Weg zum ersten Mal, hilft das Navi, da der Weg noch nicht im inneren Auge abgebildet ist. Das Navi bzw. das häufige Abfahren hilft, den Weg einzuprägen. Dadurch, dass er immer wieder befahren wird, wird er fester, stabiler. Wenn du dein Kind also dabei beobachtest, wie es sich immer wieder vom Rücken auf den Bauch rollt und wieder zurück, ist es gerade dabei den holprigen Feldweg zu einer stark befahrenen Autobahn auszuweiten. Irgendwann ist der Weg verinnerlicht. Das Navi wird nicht mehr gebraucht. Man spricht dann davon, dass der Reflex integriert wurde. Soweit zu unserer Halbautomatik.
Störfaktoren in der Bewegungsentwicklung
Halbautomatik deshalb, da wie gesagt Anlagen da sind und diese auch ihren natürlichen Gang gehen, manchmal aber entweder interne oder externe Störfaktoren dazwischen funken. Die Entwicklung läuft zwar weiter, aber im Hintergrund immer mit den aktiven frühkindlichen Reflexen, die, die wie das Navi dazwischen quatschen, obwohl du den Weg schon kennst. Die Auswirkungen aktiver frühkindlicher Reflexe sind vielvältig und oft, werden sie erst im Schulkindalter sichtbar, da es zu Lern-, Konzentrations-, und Verhaltensproblemen kommen kann. Kein Wunder! Stell dir vor, dir quatscht einer den ganzen Tag rein, obwohl du weißt, wie der Hase läuft. Das sorgt für ein hohes Stressniveau, eine Reizanfälligkeit und ist ermüdenend. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es diverse Ursachen für die Auswirkungen gibt und es ist oft ein komplexes Zusammenspiel aus vielen Faktoren ist, die bis zur Schwangerschaft zurückführen können. Die frühkindlichen Reflexe sind ein Aspekt.
Bewegungsentwicklung fängt mit der Entdeckung des eigenen Körpers an. Auch hier folgt alles einem logischen Bauplan und gerade in den ersten drei Monaten kann zu früh eingesetztes Spielzeug kontraproduktiv bzw. ein externer Störfaktor in der Entdeckung des eigenen Körpers sein. Das Entdecken des Spielzeuges tritt in den Vordergrund und die Wiederholungen natürlicher Bewegungsmuster geraten in den Hintergrund. Durch das Fehlen der Wiederholungen, können Reflexe aktiv bleiben und zu internen Störfaktoren werden. Aber auch bei älteren, Babys sollten wir manchmal auch einfach nur beobachten. Gerade, wenn sie konzentriert ihren Körper ertasten.
Aber natürlich sind Anreize auch wichtig. Bekommt unser kleines Wesen nämlich keine oder wenig Anreize oder Impulse, die das Interesse wecken und spielerisch den Muskelaufbau fördern, es einfach zu wenig Zeit im Alltag für freie Bewegungsentwicklung gibt, da viel Zeit in Wippen, Kinderstühlen, engen Kinderwägen oder Tragen verbracht wird, kann das auch negative Einflüsse auf die Entwicklung haben. Hier hilft es mal zu beobachten wie viel Zeit dein Kleines im Alltag für freie Bewegungsentwicklung hat. Um Einseitigkeit und Muskeldysbalancen zu verhindern, bietet es sich an Impulse aus unterschiedlichen Richtungen und Höhen kommen zu lassen und Bewegungsabläufe in beide Richtungen üben zu lassen. Ein weiterer Störfaktor ist, wie schon erwähnt, das parallele Heben. Hat dein Kind gerade emsig das Rollen geübt, ist nun aber kaputt oder es ist Zeit zum Essen und du hebst es dann parallel und passiv hoch, müsste eigentlich so eine Melodie kommen, wie wir sie aus Filmen kennen, wenn jemand eine Situation crasht;-). Der natürliche Aufrichtungsprozess passiert nämlich über eine Dreh-Beugebewegung, nicht über das parallele Hochkommen. Rollt das Kind zunächst vom Rücken auf den Bauch, wird der untere Teil ab den Hüften inklusive Beine gebeugt/eingerollt und mit Schwung wird sich umgedreht. Auch von der Bauchlage in den Sitz, startet wieder erst eine Beugebewegung im Bein, um sich dann spiralförmig in den Sitz hochzudrehen, usw. Nehmen wir unsere Kinder nun oft parallel hoch oder ziehen sie unter den Achseln zu uns auf den Arm, ist das für uns nicht nur ein anstrengender Kraftakt, sondern es ist auch ein völlig anderes Bewegungsmuster: Ein passives, ein unnatürliches, eins was unseren Kleinen nicht bei den Wiederholungen, dem Ausbau ihrer Straßen hilft und zusätzlich zu Verspannungen und vor allem Anspannung im Körper führen kann. Durch fehlende Muskulatur hängen die Kleinen dann mit ihrem kompletten Körpergewicht in ihren Gelenken.
Die Wichtigkeit des Wies
Möchte dein Kind statt zu krabbeln lieber schon stehen und laufen, ist es hilfreich dein Kleines noch „am Boden zu halten“. Liebevoll und ohne Druck, gleichzeitig durch spezielle Berührungen und bestimmte Führung. Führung in der natürlichen Bewegungsentwicklung? Ja, eine natürliche Bewegungsentwicklung braucht trotz ihrer Anlagen achtsame Begleiter, die durch Impulse neben dem natürlichen Schubs noch einen kleinen externen Schubs geben, um Dranzubleiben, weiter zu üben und wie in diesem Fall, weiter am Fundament, an der sicheren Basis zu arbeiten. (Bitte den Schubs nicht wörtlich verstehen!) Vergleichen wir unseren vorinstallierten Plan mit einem Bauplan eines Hauses und dem Hausbau: Hier wird auch erst das Fundament geschaffen, die sichere Basis. Erst, wenn unten alles stabil ist, baut man weiter in die Höhe. Ein Baum macht es ähnlich. Erst wird das Wurzelwerk ausgebreitet, ein stabiler Anker, der den hohen Stamm und das Astwerk hält. Würde man das Dach auf ein paar instabilen Stelzen aufbauen, oder der Baum würde nur durch ein paar dünne Wurzelstränge gehalten, würden beide auch bei der kleinsten Böe in sich zusammenstürzen. Kindern, die zu früh hoch kommen, geht es ähnlich. Alles ist instabil, sie kämpfen mit dem Gleichgewicht und der Schwerkraft. Dadurch, dass sie nie den stufenweisen Weg vom Sitzen in den Stand und andersherum gelernt haben, landen sie wohl oder übel meist auch noch im W-Sitz, der bei ausschließlicher Sitzweise zu Verformungen der Gelenke (X-Beine) und Verstärkung der Instabilität in den Beinen u.v.m. führen kann.
Das komplette Auslassen von Meilensteinen, kann außerdem zu einer Hilflosigkeit und Abhängigkeit deines Kindes führen. Setz du dein Kind passiv hin, ohne dass es den Weg dorthin selbstständig zigmal „abgefahren“ ist, kennt es den Rückweg aus dieser Position nicht. Was dann passiert, ist, dass ein kleines Kind zwar „sitzt“ und alle sich freuen, wie lange das schon klappt, das kleine Wesen aber einfach auch gar keine Idee hat, wie es aus dieser Position wieder herauskommt. Leider bleibt diese Hilflosigkeit manchmal unbemerkt, da sich ja alle um das kleine Wesen herum so freuen und Babys in solchen Situationen oftmals leider hilflos mitlächeln. Welche Unsicherheit, Instabilität und Stress im Inneren abläuft, bekommt keiner mit. Also bitte, bitte, gib deinem Kind die Möglichkeit das Wie zu üben. Also wie komme ich eigenständig und natürlich von der Bauchlage in den Sitz oder vom Vierfüßlerstand in den Sitz und zurück. Das gleiche gilt fürs passive Hinstellen. Klar, kannst du immer den Retter spielen und dein Kind wieder aus der gefangene Position holen, perspektivisch, ist das aber nicht nur anstrengend für dich sondern auch frustrierend für dein Kind.
Und zum Schluss noch ein Ausrufungszeichen
Möchtest du die Entwicklung deines Kindes bestmöglich unterstützen, Muskeln und Gelenke achtsam behandeln und dem kleinen Körper Stress ersparen, dann versuche aufzuhören parallel zu heben oder passiv zu greifen. Wenn wir üben natürliche Dreh-,Beugebewegungen aufzugreifen, Bewegungen weiterzuführen und zuvollenden und vor allem uns mit unseren Kindern zu bewegen, dann gehen wir in Beziehung. Langsame Abläufe ermöglichen deinem Kind nachzuvollziehen, zu verstehen und zu verinnerlichen. Dir gibt es die Möglichkeit wahrzunehmen, wo dein Kind gerade steht. Ihr tretet in Beziehung: Was ist verstanden, wo braucht es noch Führung? Achtsames Handling meint auch Beidseitigkeit zu berücksichtigen und das Kind nicht immer über die gleiche Seite hochzunehmen, nicht immer auf der gleichen Seite zu tragen und nicht immer an der gleichen Position auf der Krabbeldecke zu sitzen. Achtsames Handling beinhaltet natürliche Dreh-Beugebewegungen beim Wickeln einzubeziehen und jede Bewegung anzukündigen. So können die Kleinen sich vorbereiten, ihre Muskeln ansprechen und mitarbeiten lernen. Achtsames Handling entlastet nicht nur den Körper deines Kindes, sondern auch deinen eigenen und sorgt für Entspannung im Inneren, sodass mehr Kapazität für die spannende Umwelt ist. Es ist eine wunderbare Möglichkeit, die Entwicklung konstruktiv zu unterstützen, ohne sie zu stören. Gleichzeitig förderst du die Selbststätigkeit und übst eine würdevolle Art einen kleinen Menschen in Bewegung zu begleiten.
Für die Achtsamkeit im Alltag:
Wie legst du dein Kind auf den Wickeltisch? Wie kommt es wieder hoch?
Trägst du dein Kind immer auf der gleichen Seite? Oder achtest du auf Diversität im Tragen?
Hat dein Kind schon eine Lieblingsseite? Also eine starke Seite?
Lust auf Beobachtung? Leg dein Kind mal auf den Rücken und beobachte "wie weit" es in den Abfolgen kommt und ob du die Dreh-Beugebewegungen erkennst.
Du hast keine Ahnung was, wann, wie in der Bewegungsentwicklung zuerst kommt oder wie das „Wie“ aussehen soll? Du möchtest wissen, wie du was im Alltag konkret umsetzen kannst, ohne großen Veränderungsstress auszulösen? Dein erstes Kind hat Meilensteine übersprungen und beim zweiten Kind, möchtest du es anders begleiten? Du möchtest mehr über Handling und achtsame Berührungen und Führungen erfahren und aufhören Muskeln und Gelenke zu strapazieren? Nach diesem Blogartikel bist du schon wunderbar in der Theorie aufgestellt. In der Praxis helfe ich dir gerne. Schreib mir einfach eine Nachricht oder ruf michan und wir vereinbaren einen Termin in deinem Alltag mit Kind und Partner oder mit deiner Freundin oder nur mit Kind. Ganz wie du dich fühlst.
Es sind die kleinen Dinge, die Großes verändern.
In diesem Sinne eine bewegte Woche.
Maria
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